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Newsletter Erbrecht und Vermögensnachfolge Issue 6|2022

Schließt passives Verhalten bei der Kontaktaufnahme die Pflichtteilsminderung aus?

12. Oktober 2022

1. Einleitung

Das österreichische Erbrecht ist vom Prinzip der Testierfreiheit geprägt. Dieser Freiheit werden aber Grenzen gesetzt, konkret durch das zwingende Pflichtteilsrecht. Dieses sichert bestimmten nahen Angehörigen (Ehegatten, Kinder) einen Teil der Verlassenschaft zu. Bei besonders gravierenden Fällen sieht das Gesetz dennoch die Möglichkeit vor, dass der Verstorbene mittels letztwilliger Verfügung den Pflichtteil herabsetzt oder ganz entzieht. Dies geschieht mit der sogenannten Enterbung oder Pflichtteilsminderung. Bei der Pflichtteilsminderung kann die Pflichtteilsquote auf die Hälfte reduziert werden. Dafür benötigt es ein fehlendes Naheverhältnis, wie es zwischen solchen Familienangehörigen gewöhnlich besteht, eine Entfremdung über zumindest 20 Jahre und der Verstorbene darf das familiäre Naheverhältnis weder grundlos gemieden haben, noch berechtigten Anlass für den Kontaktabbruch durch den Pflichtteilsberechtigten gegeben haben.

2. OGH vom 06.09.2022, 2 Ob 116/22f

In dieser Entscheidung hat sich der OGH mit der Frage befasst, ob eine Pflichtteilsminderung vorliegen kann, wenn der Verstorbene sich nicht um einen Kontakt bemüht. Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die Klägerin ist die Tochter eines vorverstorbenen Sohnes der Verstorbenen. In ihrem Testament aus 2008 enterbte die Verstorbene die Klägerin, da sie sich aufgrund einer Auseinandersetzung im März 2008 zwischen der Klägerin und ihrem Schwiegersohn gekränkt fühlte. Sie hielt der Klägerin vor, dass ihr Verhalten nicht in Ordnung sei und bat sie, nicht böse auf sie zu sein. Die Klägerin erwiderte, dass die Verstorbene eine böse Frau sei. Bis zum Tod der Verstorbenen 2017 gab es keinen Kontakt. Ab 1999/2000 traf die Klägerin mit der Verstorbenen lediglich bei Familienfeiern zusammen, wobei es nie zu persönlichen Gesprächen kam. Weder die Klägerin, noch die Verstorbene bemühten sich um ein Gespräch oder die Aufnahme weitergehenden Kontaktes.  

Der OGH bejahte hier die Pflichtteilsminderung und begründet dies wie folgt:

Nach § 776 Abs 1 ABGB kann der Verfügende den Pflichtteil letztwillig auf die Hälfte mindern, wenn er und der Pflichtteilsberechtigte zu keiner Zeit oder zumindest über einen längeren Zeitraum vor dem Tod des Verfügenden nicht in einem Naheverhältnis standen, wie es zwischen solchen Familienangehörigen gewöhnlich besteht. Nach § 776 Abs 2 ABGB steht das Recht auf Pflichtteilsminderung dann nicht zu, wenn der Verstorbene den Kontakt grundlos gemieden oder berechtigten Anlass für den fehlenden Kontakt gegeben hat.

Grundsätzlich kommt es gemäß § 776 ABGB „[…] oder zumindest über einen längeren Zeitraum […]“ vermehrt auf das Verhältnis zwischen erwachsenen Personen an. Um volljährige und minderjährige Pflichtteilsberechtigte gleichzusetzen, wird nicht mehr auf das vom Verstorbenen grundlos abgelehnte „Recht“ auf Ausübung persönlicher Kontakte mit dem Pflichtteilsberechtigten, sondern auf die grundlose Meidung des Kontakts, abgestellt. Eine Kontaktmeidung setzt aber keinen vorangehenden Kontaktaufnahmeversuch der Pflichtteilsberechtigten voraus, somit kann auch bei unterbliebener Kontaktaufnahme die Pflichtteilsminderung ausgeschlossen sein. Wenn die Verstorbene kein Kontaktinteresse hat, sich also passiv verhält und nicht um einen Kontakt bemüht, stellt dies noch kein „Meiden“ des Kontaktes dar, das zum Ausschluss des Rechts auf Pflichtteilsminderung führt. Eine aktive Ablehnung eines Kontaktversuchs ist nicht notwendig, dennoch muss ein sanktionsbedürftiges Verhalten der Verstorbenen vorliegen, das es rechtfertigt, ihr die Möglichkeit der Pflichtteilsminderung zu verwehren.

3. Fazit

Nach § 776 Abs 2 ABGB wird das Recht auf Pflichtteilsminderung ausgeschlossen, wenn der Verstorbene den Kontakt grundlos gemieden (erster Fall) oder Anlass für den fehlenden Kontakt gegeben hat (zweiter Fall). Der Pflichtteilsberechtigte muss sich nicht um eine vorhergehende Kontaktaufnahme bemühen, damit keine Pflichtteilsminderung vorliegt. Der Verstorbene hat den Kontakt dann gemieden, wenn er zwar nicht mehr aktiv den Kontaktversuch ablehnt, aber sein Verhalten darauf schließen kann, dass er den Pflichtteilsberechtigten sanktionieren möchte. Nur dann ist ihm die Möglichkeit der Pflichtteilsminderung verwehrt.

DDr. Katharina Müller, TEP / Dr. Martin Melzer, LL.M.

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