Abstract
Steigende Baukosten und stagnierende Baukonjunktur verstärken den Druck auf den Gesetzgeber, bestehende technische Standards zu hinterfragen. Im Zentrum der Debatte steht die Frage, ob das dichte Geflecht an ÖNORMEN und OIB-Richtlinien kosteneffizientes sowie innovationsfreundliches Bauen behindert. Doch wieviel rechtlicher Spielraum besteht tatsächlich für ein Abweichen vom Stand der Technik insbesondere im Lichte der stark europarechtlich geprägten Normen?
Text
Da die Rezession auch vor der Baubranche nicht Halt macht und selbst Konjunkturpakete nicht die erhoffte Kehrwende bringen, werden die Rufe nach kosteneffizientem Bauen und vor allem leistbarem Bauen immer lauter und befeuern die Diskussion rund um das vermeintlich innovationshemmende und kostentreibende Normenwesen. Es dauerte daher nicht lange, bis nun auch die von unserem deutschen Nachbarn ausgehende Diskussion über das Projekt „Gebäudetyp E“ in der österreichischen Fachliteratur auf das Tapet gebracht wurde. Der Fokus des deutschen Projektes liegt vor allem im Bereich des privaten Wohnbaus und soll nach seiner Grundidee privaten Bauherren die Möglichkeit bieten, vor allem ohne überbordende Reglementierung Wohnraum zu schaffen und dort einzusparen, wo die Rechte und Interessen Dritter nicht gefährdet oder erheblich beeinträchtigt werden.
Im Rahmen der aktuellen Diskussion wurde mitunter die Frage aufgeworfen, ob der „österreichische Normendschungel“ dem Fortschritt und der Entwicklung effizienterer und kostengünstigerer Alternativlösungen im Weg steht. Der Hebel wird dabei einerseits auf Ebene des Bundes- und Landesgesetzgebers gesehen, der gesetzlichen Lockerungen vorsehen und damit ein Abweichen vom – sich unter anderem anhand der technischen Normen und Richtlinien definierenden – Stand der Technik ermöglichen könnte, und andererseits auf Ebene der Normungsinstitute, die eine Evaluierung und Bereinigung „überflüssiger“ Standards vornehmen müssten.
Einigkeit besteht bisher darüber, dass sicherheitsrelevante Standards nicht zur Diskussion stehen. Zwingende statische, brandschutztechnische oder auch hygienische Erfordernisse sollen auch durch das propagierte Abweichen von technischen Normen keinesfalls aufgeweicht werden. Eingespart werden soll dort, wo es um „Komfort“ geht.
Abseits der technischen Realisierbarkeit kostengünstigerer und nachhaltigerer Lösungen (z.B. Reduktion der Deckenstärke) stellt sich in rechtlicher Hinsicht stets die Frage, ob anhand der derzeitigen Rechtslage bereits vom „Stand der Technik“ bzw. den technischen Normen abgewichen werden kann bzw. inwiefern die bestehende Rechtslage abgeändert werden muss, um eine taugliche Rechtsgrundlage zu schaffen.
Die Bauordnungen der Länder sehen den Stand der Technik als gesetzlichen Standard vorn (z.B. § 118 Bauordnung für Wien), dessen Nichteinhaltung oder ein fehlender Nachweis einer gleichwertigen Alternative der Erteilung der Baubewilligung im Weg steht. Zudem stellen sich auf zivilrechtlicher Ebene weitere haftungsrechtliche Hürden im Gewährleistungs-, Schadenersatz- und Produkthaftungs- sowie Miet- und Bauträgervertragsrecht.
Im Zusammenhang mit der vom BGH bei Beurteilung des Projektes „Gebäudetyp E“ getroffenen Aussage, dass ein Abweichen vom Stand der Technik bzw. den jeweiligen technischen Normen nach deutschem Recht bereits möglich und die rechtliche Lösung in der entsprechenden Aufklärung der Endverbraucher zu suchen sei, gilt es die Hürde der Verbraucherschutzbestimmungen des österreichischen Konsumentenschutzgesetzes (z.B. § 6 KschG) zu überwinden. Eine zwischen Unternehmern zulässige Vereinbarung über das Abweichen von technischen Standards ist in der Regel nicht auf Verbrauchergeschäfte übertragbar. Selbst wenn gegenüber Verbrauchern die vorgesehenen umfassenden Aufklärungs- und Informationspflichten erfüllt werden, ist unklar, ob ein damit einhergehender Ausschluss bzw. eine Einschränkung der Gewährleistungs- und Schadenersatzrechte im B2C-Bereich wirksam vereinbart werden kann.
Unabhängig davon, dass das österreichische Normungswesen keinen Selbstzweck erfüllt, sondern dadurch ein einheitliches Maß an Qualität, Funktionalität und Sicherheit gewährleistet wird und eine differenzierte Normenlandschaft, gepaart mit rechtlicher Planbarkeit und technischer Qualitätssicherung auch Voraussetzung für wirtschaftliches und vor allem nachhaltiges Bauen (z.B. ÖNORM EN 17680, ÖNORM EN 15643) sein kann, stellt sich im Zusammenhang mit der Forderung nach gesetzgeberischen Maßnahmen und der Evaluierung sowie Verschlankung technischer Normen die Frage, ob der Bundes- bzw. Landesgesetzgeber und die Normungsinstitute aufgrund des Einflusses des europäischen Gesetzgebers bzw. der Normensetzung auf europäischer Ebne überhaupt dazu in der Lage wären, derart umfassende Änderungen vorzunehmen.
Aufgrund des harmonisierten Gewährleistungs- und Verbraucherrechtes und der Vielzahl an europäischen Normen (z.B. EN‑Normen, EN ISO‑Normen), die wiederum die Basis für nationale Standards bilden, können Bestrebungen nach einer Gesetzesänderung bzw. Bereinigung oder Änderung technischer Normen und Standards nicht rein national betrachtet werden. Die Implementierung einer rechtlichen Möglichkeit, auf Ebene der Mitgliedsstaaten technische Normen und Standards auszudünnen bzw. zu unterschreiten, müsste daher auch am Bestreben des europäischen Gesetzgebers und des europäischen Normungswesens (CEN) nach Harmonisierung des Bausektors und vor allem an dem Ziel der Schaffung eines europaweit einheitlichen und damit vergleichbaren Rahmens technischer Normen gemessen werden. Die sogenannten Eurocodes bzw. Europäischen Normen (EN) bilden heute die tragende Säule der technischen Planungsnormen im europäischen Bauwesen. Besonders deutlich wird der europäische Einfluss im Bereich der Nachhaltigkeit mit der EU-Gebäuderichtlinie 2024/127, in deren Umsetzung wiederum die OIB-Richtlinie 6 und 7 ergangen sind.
In diesem Zusammenhang ergeben sich auf europäischer Ebene ebenso Hürden bei der Vergabe unionsweiter Bauaufträge, weil dabei unter anderem die Vergaberichtlinie 2004/18/EG zu beachten ist, die wiederum den Einsatz europäischer Normen zwingend vorsieht, um einen einheitlichen technischen Referenzrahmen in Ausschreibungen zu gewährleisten.
Fazit
Die Diskussion über eine Deregulierung technischer Standards zugunsten kostengünstigerer Bauformen ist aus juristischer Sicht komplexer, als sie auf den ersten Blick erscheint. Zwar besteht im B2B-Bereich womöglich Raum für individuelle Abweichungen vom Stand der Technik, im Verbraucherrecht sind die Hürden jedoch – insbesondere aufgrund der zwingenden Bestimmungen des KSchG – hoch und schwer zu überwinden. Hinzu tritt die strukturelle Begrenzung nationaler Normsetzung durch das Europarecht. Die Vielzahl an harmonisierten Normen bestimmen maßgeblich die Inhalte nationaler Standards. Die Idee einer „Entschlackung“ technischer Normen ist daher auf nationaler Ebene kaum ohne europäische Mitwirkung realisierbar. Eine differenzierte Diskussion ist deshalb notwendig – nicht mit dem Ziel einer pauschalen Normenreduktion – sondern einer rechtssicheren, schutzzielorientierten und europarechtskonformen Weiterentwicklung des technischen Regelwerks.
Markus Androsch-Lugbauer
Artikel aus dem Bau & Immobilien Report 06 2025 als Download.