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Newsletter Kapitalmarkt- und Bankrecht, FinTechs Issue 5|2022

Die virtuelle Hauptversammlung auf dem (rechtlichen) Prüfstand

1. September 2022

Als Reaktion auf die COVID-19-Pandemie hat sich für Hauptversammlungen börsenotierter Aktiengesellschaften ein praxistaugliches Format einer virtuellen Hauptversammlung etabliert. Ein Aktionär läuft dagegen Sturm – nun auch mit gerichtlicher Hilfe.

Virtuelle Hauptversammlungen werden auf Basis des Gesellschaftsrechtlichen COVID-19-Gesetzes und der Gesellschaftsrechtlichen COVID-19-Verordnung abgehalten. Diese interimistischen (befristeten) Rechtsgrundlagen wurden seit Pandemiebeginn immer wieder verlängert, zuletzt im Juni 2022 bis 31. Dezember 2022. Vereinfacht gesagt funktioniert die virtuelle Hauptversammlung in der derzeit dominierenden Ausgestaltung wie folgt:

  • Die Aktiengesellschaft streamt die Hauptversammlung ins Internet. Jede(r) Aktionär:in kann sie ohne weiteres im Internet verfolgen, sofern er nur eine stabile Internetverbindung und Audio hat. Eine Anmeldung, Registrierung etc ist hierfür nicht erforderlich.
  • Für die Ausübung der Aktionärsrechte ist zweierlei erforderlich: (i) die Anmeldung bei der Gesellschaft durch zeitgerechte Übermittlung einer Depotbestätigung (wie auch bei physischen Hauptversammlungen erforderlich) und (ii) das Ausfüllen und Übermitteln einer Vollmacht für eine(n) von vier (von der Gesellschaft nominierten) unabhängigen Stimmrechtsvertreter:innen. Dies erfolgt im Regelfall per E-Mail an die hierfür eingerichtete Adresse des/der Stimmrechtsvertreter:in.
  • Das Frage- und Rederecht übt der/die Aktionär:in ungeachtet dessen selbst aus. Dazu übermittelt er/sie seine/ihren Beitrag per E-Mail an eine Adresse der Gesellschaft. Der Beitrag wird dann in der Regel vom/von der Aufsichtsratsvorsitzenden verlesen, die Fragen (wie in der physischen Versammlung) in der Folge vom Vorstand (oder allenfalls vom/von der Aufsichtsratsvorsitzenden) beantwortet.
  • Die Ausübung des Stimmrechts, das Erheben von Widersprüchen zu Abstimmungsergebnissen und das Stellen von Beschlussanträgen erfolgt durch den/die Stimmrechtsvertreter:in exakt anhand der Instruktionen des/der Aktionär:in.
  • Eine physische Teilnahme des/der Aktionär:in ist, wie sollte es anders sein, bei der virtuellen Hauptversammlung natürlich nicht möglich.

Obwohl die Rechtsgrundlagen damals wie heute in Kraft sind, hätte die Vienna Insurance Group im Mai 2022 ihre ordentliche Hauptversammlung nicht virtuell abhalten dürfen, sondern vielmehr physisch abhalten müssen, behauptet nun einer ihrer Aktionäre. Und ficht daher alle gefassten Beschlüsse der Hauptversammlung beim Handelsgericht Wien an. Dies dem Vernehmen nach mit zwei Argumenten: (i) Bei pflichtgemäßem Ermessen des Vorstands wäre in Anbetracht der damals herrschenden Gegebenheiten physisch einzuberufen gewesen; und (ii) die Rechtsgrundlagen seien verfassungswidrig, weil sie Aktionär:innen derart stark in ihren Rechten beschneiden und insbesondere Kleinaktionär:innen diskriminieren würden. Diese seien weniger technikaffin und daher oft nicht in der Lage, an einer virtuellen Hauptversammlung teilzunehmen.

Ob die (angeblich) gesunkene Zahl an Kleinaktionär:innen tatsächlich damit zu tun hat, dass diese kein Internet haben und keine E-Mails schreiben können, soll im Jahr 2022 jede(r) Leser:in selbst beurteilen. Von mir nur ein Hinweis: Anders als bei physischen Hauptversammlungen gibt es bei virtuellen Hauptversammlungen natürlich kein üppiges Buffet.

Offensichtliches Ziel der Anfechtungsklage ist, die Rechtsgrundlagen für die virtuelle Hauptversammlung vom Verfassungsgerichtshof geprüft (und aufgehoben) zu bekommen. Ein Nebenziel ist sicher auch, Überlegungen einer Übernahme des virtuellen Formats in das „Dauerrecht“ zu torpedieren. Ich fände es schade, wenn wir hier wieder einen Schritt zurück machen würden, zumal sich das virtuelle Format in der Praxis bestens bewährt hat. Nachschärfungen dort und da wären aber natürlich sinnvoll. Eine österreichische börsenotierte Aktiengesellschaft hat hier – freiwillig – etwas Interessantes vorgelebt: Aktionär:innen konnten sich im Vorfeld der Hauptversammlung für Live-Redebeiträge anmelden und wurden dann mit akustischer und optischer Zweiweg-Verbindung zugeschaltet. So konnten Frage- und Rederecht etwa selbst wahrgenommen werden. In diese Richtung geht es übrigens auch in Deutschland.

Mag. Gernot Wilfling

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